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Reif für die Insel



Gesucht wird die beste Serie des Jahres 2005. Seit dem 4. April befindet sich "Lost", der Hauptverdächtige in diesem Fall, in Untersuchungshaft. Die Beweislage ist erdrückend: vielschichtige Charaktere, verkörpert von großartigen Schauspielern; hervorragende optische Werte; kleinere und größere Dramen, die sich auf der Insel, aber auch im Leben der einzelnen Charaktere vor dem Flugzeugabsturz, abspielen; alles gespickt mit einer Portion Mystery - und die Untersuchungen sind noch lange nicht abgeschlossen. Was das hier soll? Dies ist der Hinweis, dass die Abenteuer-Mystery-Drama-Serie "Lost", die derzeit auf ProSieben läuft, mit zum Besten gehört, was in den letzten Jahren über die deutschen Bildschirme geflimmert ist.

Interessant ist wieder einmal, wie ProSieben mit dieser Perle umgeht. Dass die Trailer, die wöchentlich für die Serie produziert werden, alles andere als ansprechend sind, überrascht nicht allzu sehr. Im Falle von "Lost" wirkt sich die Unfähigkeit der Kreativen jedoch besonders verheerend aus; man betrachte nur einmal die Quoten, die sich nun zwar stabilisiert haben, in den letzten Wochen aber deutlich gesunken sind. Das Hauptproblem besteht darin, dass ProSieben die Serie von Anfang an als etwas verkauft hat, was sie (bisher) eigentlich gar nicht ist. Vor Betrachten des Pilotfilms musste man wohl den Eindruck haben, dass es sich um eine Horror-Serie handelt, in der jede Woche zig Menschen ihr Leben lassen und in der jede Woche sowieso nur ums Leben gerannt wird. Und die Botschaft "Jeder von ihnen hat ein dunkles Geheimnis", bezogen auf die Charaktere, ist so auch nicht ganz richtig, zumindest wenn man daran die Erwartung knüpft, dass es sich in Wahrheit um 48 Kriminelle, Schwerbrecher, etc… handelt. Ersetzt man "dunkles" durch "schmerzliches" haut das schon eher hin.

Besonders "erfreut" bin ich auch gewesen, als ich erfahren habe, dass ProSieben "Lost" (und "Desperate Housewives") in eine Sommerpause schicken will. Offiziell weil man mit der Synchronisation nicht hinterher kommt, inoffiziell weil die Sommermonate bekanntermaßen die wenigsten Zuschauer vor die Bildschirme locken. Völlig egal, welcher Grund nun der Wahre ist, ärgerlich ist es allemal. Da fragt man sich doch, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, die beiden Serien erst im Herbst starten zu lassen. Manch einer mag argumentieren, dass man in diesem Fall halt länger auf den Start der Serie hätte warten müssen. Aber wenn man von einer Serie nicht weiß, dass sie überhaupt existiert (was bei dem Großteil der Zuschauer sicherlich der Fall gewesen ist), kann man auch schlecht sehnsüchtig darauf warten. Wie dem auch sei - es folgte die Meldung, dass beide Serien nun doch nicht in die Sommerpause gehen, die schon kurze Zeit später korrigiert wurde: Es gibt eine Sommerpause, jedoch erst drei Wochen später - die Synchronisation laufe besser als erwartet. Vor etwa einer Woche folgte schließlich die überraschende Nachricht: Ab 4. Juli werden die bisher erschienenen Folgen noch einmal wiederholt. Das gibt mir nicht nur die Gelegenheit, parallel dazu jede Woche fleißig eine Kritik zu verfassen, sondern auch die Möglichkeit, Euch dringlicht darauf hinzuweisen, dieser Serie eine faire Chance zu geben.

Wer von einer Serie tiefsinnige Unterhaltung erwartet, wird sich von den Actiongeladenen Trailern sicherlich nicht angesprochen gefühlt haben. Wer sich darauf gefreut hat, jede Woche sterbende, panische Menschen zu sehen, wird nach ein paar Wochen enttäuscht den Fernseher ausgeschaltet haben, denn der Horror-Level wandert in einigen Folgen Richtung Null. Selbstverständlich animieren einen die "superben" Sprüche in den Trailern wie "Du kannst niemandem, aber wirklich niemandem trauen" oder "und sie jagen, bis sie selbst gejagt werden" auch nicht gerade zum Einschalten, besonders weil sie das eigentliche Thema der Episoden gänzlich verfehlen. Und da ich davon ausgehe, dass ihr alle dem gut gemeinten Ratschlag von Onkel René folgt und Euch ab dem 4. Juli selbst ein Bild von der Qualität der Serie macht (aber wenn, dann erst ab da, denn die drei neuen Episoden, die bis dahin noch ausgestrahlt werden, zu schauen, wäre wohl wenig hilfreich, da die Serie nun wirklich nicht darauf ausgerichtet ist, jede Woche noch einmal bei Null zu beginnen und jedem einen leichten Einstieg zu vermitteln; außerdem würde man eventuell schon zu vieles erfahren, was in vergangenen Episoden noch für Überraschungen gesorgt hat), werde ich an dieser Stelle auf Details ein wenig verzichten, um nicht allzu viel vorneweg zu nehmen.

Doch trotzdem, welche Argumente sprechen für die Serie? Gestern habe ich mir meinen Bericht zur Pilotfolge angesehen und musste doch ein wenig lächeln. "Die Qualität der gesamten Serie steigt und fällt letztendlich mit der Qualität der Auflösung" - Blödsinn. Dies würde die Serie ja eben nur auf den Mystery-Faktor reduzieren, was ihr nun wahrlich nicht gerecht wird. Im Mittelpunkt stehen bisher eher die Charaktere und ihre Schicksale. Hier mal ein kleiner Überblick.

Will man von einem Hauptcharakter sprechen, so ist dies Jack. Ein Arzt, der gerade aufgrund seines Berufs eine Führungsrolle unter den Überlebenden einnimmt, weil er halt ständig gebraucht wird. Eine Rolle, die er nur widerwillig einnimmt, weil er eine Tragödie auf der Insel nicht verhindern konnte, weil ihn andere in seiner Führungsrolle kritisieren, aber besonders weil sein Vater der Meinung war, dass er im Grunde ein Versager ist. Mit seinem persönlichen Schicksal ist der Zuschauer vielleicht am Stärksten verbunden, weil man der Handlung zu Beginn der Serie vor allem aus seiner Sicht gefolgt ist: wie er im Wald aufgewacht und zum Strand gelaufen ist und dort ein Bild des Grauens erblickt hat. Interessant an dieser Stelle: Die Reaktionen der Darsteller sollten so echt wie möglich wirken, wenn sie am Strand zwischen den Trümmerteilen umherirren. Aus diesem Grund wurden sie mit verbundenen Augen an das Set geführt und die Reaktionen der Darsteller an sich wurden sofort gefilmt. Eine prima Idee, die sich ausgezahlt hat.
Neben Jack übernimmt auch Kate eine Art Führungsrolle. Sie ist vor allem dafür zuständig, Streite zu schlichten, von denen es in jeder Episode so einige gibt. Zudem weiß der Zuschauer nicht, ob sie einer der Charaktere mit einer dunklen Vergangenheit ist; auf jeden Fall scheint sie sich etwas zu Schulden hat kommen lassen, nur weiß man eben nicht, was genau.
Locke, eine Art Survival-Experte, der unter anderem für die Wildschweinjagd zuständig ist, war in den letzten Folgen zwar nur wenige Minuten zu sehen, ist aber vom Potential her einer der besten Charaktere. Er genießt nicht unbedingt das Vertrauen seiner Mitmenschen, hat "ein Wunder" erlebt (das an dieser Stelle nicht erwähnt werden soll, da der Augenblick, in dem der Zuschauer mit ihm konfrontiert wird, sicherlich zu den Genialsten der bisherigen Folgen gehört) und "der Insel ins Auge gesehen". Letzteres bedeutet, dass er etwas gesehen hat, was ihn in den Episoden danach nur noch mysteriöser erscheinen lässt, als er es ohnehin schon war. Auch an einem stabilen Zustand seiner Psyche darf gezweifelt werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Man weiß nicht, ob der Typ verrückt ist, was er gesehen hat und wie diese Begegnung wiederum ihn beeinflusst oder verändert hat.
Kommen wir zu Sawyer, einem meiner Lieblingscharaktere. Mit einer Mischung aus Ironie, Sarkasmus und Zynismus sorgt er ganz einfach für die besten Lacher. Außerdem verdeutlicht er am Ehesten, dass auf der Insel nicht "Friede, Freude, Eierkuchen" untereinander herrscht. Mit seinem Verhalten stößt er bei der Großzahl der anderen Inselbewohner auf wenig Gegenliebe, sieht man einmal von Kate ab. Die einzige Person, die sein Geheimnis, in diesem Fall ist es wahrlich ein Schmerzvolles, kennt. Nachdem es der Zuschauer erfahren hat, erscheint diese Figur noch bedeutend vielschichtiger, als sie es ohnehin schon war. Mitleid, Abneigung, Sympathie - die Gefühlswelt gegenüber diesem Mann ist immer in Bewegung.
Sayid ist eine der Personen, die sich mit Sawyer besonders in den Haaren liegt, was vor allem daran liegt, dass auch der Iraker eine Führungsrolle einnimmt und Sawyer auf solche Persönlichkeiten wenig gibt. Sayid ist der Gruppe vor allem als intelligenter, technisch versierter Mensch von Nutzen, der allerdings auch schon mal zu drastischeren Mitteln greift.
Letzter im Bunde der unbedingt erwähnenswerten Charaktere ist Charlie, ein ehemaliger Rockstar, der sich gleich einmal von seinem Bruder von der Drogensucht anstecken ließ und in einer Folge auf dieser Insel auf Entzug gehen darf. Dabei unterstützt ihn vor allem Locke, was wiederum dessen Charakter noch widersprüchlicher erscheinen lässt. Denn hier erweist er sich als echte Hilfe. Zurück zu Charlie: Er ist die gute Seele von "Lost"; nett, sympathisch, hilfsbereit, aber auch ein wenig naiv und tollpatschig.

Wie bereits angesprochen stehen 14 Charaktere im Mittelpunkt. Außer den sechs Genannten, hätten wir da noch: Michael und seinen Sohn Walt (die sich aber erst seit ein paar Wochen so richtig kennen, weil Walts Mutter gestorben ist, und deshalb alles andere als harmonieren), die beiden Asiaten Jin und Sun (ein Ehepaar, jedoch nicht sonderlich glücklich), die Geschwister Shannon und Boone (deren Verhältnis man wohl als typisches Geschwisterverhältnis beschrieben darf), die hochschwangere Claire (was zunächst ein wenig nach Klischee klingt, sich aber im Fortlauf der Handlung doch als weitaus mehr als das erweist) und Hurley (der aufgrund seines Aussehens und seiner Sprache ein wenig hilflos wirkt, im Grunde aber die Person ist, die alles auf den Punkt bringt und vieles ausspricht, was sich der Zuschauer schon lange denkt).

Das Prinzip von "Lost" sieht vor, sich in jeder Woche einem der Charaktere zu widmen und in Rückblenden seine Vergangenheit vor dem Absturz zu beleuchten. Das funktioniert besonders dann ganz hervorragend, wenn einer der Charaktere "an der Reihe ist", der auch bezüglich der Handlung auf der Insel gerade ein wenig im Mittelpunkt steht und sich Vergangenheit und Gegenwart somit wunderbar ineinander verschmelzen lassen. Bestes Beispiel hierfür ist die Sawyer-Folge. Die Charakterisierung der einzelnen Figuren ist exzellent. Oberflächlich wird hier so gut wie nie gearbeitet. Dadurch entsteht ein hoch interessantes Gefüge, in dem die Charaktere in den unterschiedlichsten Beziehungen zueinander stehen. Außerdem scheint hier nichts dem Zufall überlassen. Wenn zwei bestimmte Personen einen bestimmten Dialog miteinander führen, dann wurde da nicht in die Lostrommel gegriffen, sondern die beiden Charaktere mit Bedacht ausgewählt, da im Grunde jedes Gespräch irgendwie dazu beiträgt, dass sich Handlung und / oder Charaktere weiter entwickeln können.

Beim Lesen meines ersten Berichts ist mir zudem die Forderung aufgefallen, dass es Folgenübergreifende Themen genau so geben muss wie weitere Handlungsbögen, die immer verzwickter werden. Nun ja, besonders im Rückblick auf die jüngsten Folgen ist diese Forderung geradezu lächerlich. Denn was "Lost" an Überraschungen, Cliffhangern, unerwarteten Wendungen und allerlei neuen (mysteriösen) Rätseln aus dem Ärmel zaubert, ist ganz einfach sagenhaft. Besonders heimtückisch daran ist oftmals, dass man gar nicht so recht weiß, ob gewisse Ereignisse eine tiefere Bedeutung haben. Ob sie nicht nur ein Produkt des Zufalls sind. Oder um in großen Zufällen zu sprechen: Wunder. Im Moment lassen sich sämtliche Ereignisse auf der Insel auch noch relativ rational erklären. Noch hat man keine Monster, tote Menschen oder Sonstiges gesehen. Das Wunderbare an "Lost" ist, dass einfach alles möglich ist. Schon nach zehn Episoden, die an sich gar nicht so sehr auf Mystery ausgerichtet waren, könnte man ein ganzes Blatt mit Fragen ohne Antworten füllen. Ach ja, die Annahme, dass sich am Ende der Staffel alles aufklärt, ist selbstverständlich falsch. Es wird definitiv eine Zweite geben. Das heißt, dass sicherlich einige Rätsel am Ende der 25 Episoden umfassenden ersten Staffel aufgelöst werden, aber sicherlich doppelt so viele Neue auftauchen.

Knapp 2000 Wörter habe ich jetzt schon gebraucht und bin noch nicht einmal auf all die anderen Aspekte eingegangen, die diese Serie auszeichnen. Humor, traumhafte Kulissen (weil an Originalschauplätzen gedreht wird), tolle musikalische Untermalung. Und besonders diese kleinen, aber genialen Details, die diese Serie so sehenswert machen. Und eine Bitte: Vergleicht "Lost" nicht mit der RTL-Serie "Verschollen", die mittlerweile übrigens eingestellt wurde (wahrscheinlich nachdem die Zuschauer erfahren haben, dass sich RTL diesen Schund als Endlos-Produkt vorstellen könnte).

"Lost" ist eine Abenteuerserie. Weil es faszinierend ist, zu verfolgen, wie die Gestrandeten nach ihrem Absturz versuchen, mit der neuen Situation klarzukommen, langsam zur Normalität zurückzukehren. "Lost" ist eine Dramaserie. Weil sämtliche Charaktere eine Vergangenheit besitzen, die nicht so ganz erfreulich ist (Zufall?), und auch auf der Insel mit allerhand zwischenmenschlichen Problemen kämpfen müssen. "Lost" ist eine Mysteryserie. Weil auf dieser Insel irgendetwas lauert. Weil einem bestimmte Ereignisse ganz einfach nicht geheuer sein können. Und besonders weil man nie wirklich weiß, woran man wirklich ist. Ob es nicht vielleicht doch eine vernünftige Erklärung für alles gibt.

Jetzt bin ich nicht einmal auf die hervorragenden schauspielerischen Leistungen zu sprechen gekommen. Es ist einfach unmöglich, all das hervorzuheben, was diese Serie auszeichnet. Aber wie gesagt: Ab 4. Juli habt Ihr die Gelegenheit, Euch selbst davon zu überzeugen.



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